Blutegelgeschichten

Im Dezember 2004 begegneten uns auf dem Overland Track in Tasmanien Blutegel zum ersten Mal. Im Dezember 2007 fahren wir für eine Woche nach Norden durch das sogenannte Tableland, ein Hochplateau mit Canyon-artigen Einschnitten, unzähligen Wasserfällen und Regenwäldern, die als CERRA, Central Eastern Rainforest Reserves Australia, UNO-Welterbe gelistet sind. Und nun wird es Zeit für einen Spezialreport ...

1. Akt — 26. Dezember 2004

An Tag 3 unserer 8-Tages Wanderung über den Overland Track in Tasmanien kommen wir zu Frogs Flat, einer ausgedehnten Wiese, die auch als Campingplatz ausgeschildert ist. Wir sind dort zur Mittagszeit und lassen und auf den imposanten, umgefallenen Baumriesen nieder, um unsere Brotzeit zu verzehren. Rucksäcke neben uns abgestellt, holen wir die rationierten Botfladen, Salami-Stäbchen und Dauer-Käse heraus und wollen soeben kräftig zubeißen, als wir die Blutegel sehen. Von allen Seiten wackeln sie sternförmig auf uns zu, durch die Grashalme, rauf auf die Baumstümpfe oder die Wanderschuhe, entlang unserer Hosen, mit dem einen Ziel: Ran an die Waden oder hinein in die Socken! Die Egel sind zwischen 2 und 6 cm lang und kommen in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit auf uns zu. Wohin wir sehen, überall bewegen sich wackelnde Egel, hunderte, wenn nicht gar tausende! Aus der Brotzeit wird nichts, wir nehmen Reißaus so schnell wir können. Niemand kann uns weismachen, daß man auf Frogs Flat freiwillig das Zelt aufschlagen würde, wo man noch nicht mal fünf Minuten ruhig sitzen kann, ohne angeknabbert zu werden!

2. Akt — 8. Dezember 2007, 11:00–16:30 Uhr

Die Wanderungen entlang des Wonga Track und zu den Casuarina Falls im Dorrigo Nationalpark beginnen am sehr feinen Besucherzentrum. Zu Beginn stehen ein paar Warnschilder: "Vorsicht, stechende Blätter am Baum (ähnlich wie Brennesseln)" und "Vorsicht, Blutegel". Der Weg führt durch den allerschönsten Regenwald mit gigantischen Baumriesen, Gewirr von Lianen, Farnen hoch oben in den Baumwipfeln, seltsamen Vogelgeräuschen und rauschenden Wasserfällen. Informationstafeln erzählen Geschichten von Bäumen und Tieren, Jahreszeiten und Wetter. Nach 40 Minuten Wanderung und an einer dieser Info-Tafeln weist Peter Claudia darauf hin, daß sich gerade ein braunes Etwas an ihrem Schuh hinaufarbeitet. Dies ist der erste Egel des Tages, und Claudia verliert die Nerven. Peter ist auch (noch) nicht geübt im Wegschnalzen von Egeln, aber als das endlich erfolgreich vollbracht ist, entsteht nebenstehendes Bild von diesem mittelgroßen Exemplar. Wir lernen "they are thick here", wie die Australier sagen: daß die Egel hier "dick sind", sprich: in Unmassen auftreten. Es vergehen keine 20 Sekunden mehr, ohne dass die Schuhe kontrolliert werden, und auch dann hilft eine Kontrolle nur für 3-4 Schritte — wir haben Beweise! —, bis wieder dunkelbraune, dünne Gesellen daran hängen. Nun stellt Euch eine 5-Stunden-Wanderung vor, während der man alle 20 Sekunden die Schuhe kontrolliert, und Ihr bekommt einen Eindruck von unserem Tag! Claudia hat weiße Schuhe an, aber Peters sind Blutegel-farben braun gemustert. Ob dies eine gute Schuh-Wahl für den Regenwald war?! Die Egel sind einfach überall. Selbst das Fotografieren wird erschwert, weil wir uns nicht mehr trauen, für mehr als fünf Sekunden still zu stehen. Am Ende der Wanderungen hatten wir beide jeweils so um die fünfzig Egel an unseren Schuhen gehabt, vielleicht mehr. Glücklicherweise keine, die sich festgesaugt haben: Wir hatten alle rechtzeitig gefunden und weggeschnalzt.

Der allererste Blutegel des Tages — ein mittelgroßes Exemplar, daß sich ganz lang streckt, nachdem es vom Schuh geschnalzt wurde.

3. Akt — 8. Dezember 2007, 16:35 Uhr

Nach der Wanderung gelangen wir zum Auto — endlich! Wir holen unsere Strandschlappen heraus, ziehen Schuhe und Socken aus und suchen sie gründlich ab. Peters Schuhe sind "sauber", aber Claudia findet zwei dicke Exemplare in ihren Schuhen zwischen Schuh und Socken! Glücklicherweise hatten diese beiden es noch nicht in die Socken hinein geschafft, und die Socken selbst waren wohl zu dick. Wie auch immer es diesen beiden gelungen war, unbemerkt über die weißen Schuhe zu kommen (siehe unsere Abwehrmechanismen beschrieben im 1. Akt), sie waren sicherlich nicht weit von ihrem Ziel entfernt, als auch sie das Los erteilt, weggeschnalzt zu werden.

4. Akt — 8. Dezember 2007, 21:00 Uhr

Inzwischen sind wir 200 km gefahren, haben Unterkunft für die Nacht gesucht, gründlich geduscht, ausgeruht, frische Wäsche angezogen, im Pub in Nambucca Heads zu Abend gegessen, und lassen die Egel-Geschichten des Tages Revue-passieren. Claudia schlägt die Beine übereinander und schaut auf ihre Turnschuhe — da windet sich wieder ein Blutegel aus einer schmalen Höhle zwischen den Schichten ihrer Sohlen, auf dem Weg zu ihrem Bein! Wir schaffen es, den Egel vom Schuh zu schnalzen, aber nun sind wir ja in einem Pub an der Küste und können ihn nicht einfach so ziehen lassen. Hat einmal jemand versucht, einen Blutegel zu töten? Drauftreten nützt nichts, Stuhl darauf stellen auch nicht. Die Biester sind so wahnsinnig beweglich, daß es ganze fünf Minuten braucht, bis wir das Gefühl haben, daß sich der Egel nicht mehr bewegt. Und kaum haben wir diesen "unter Kontrole", wandert ein zweiter über den Boden! An der Küste gibt es keine Egel, diese beiden kommen von Claudias Schuhen, seit Stunden in den kleinsten Winkeln der Sohlen versteckt, darauf lauernd, daß sie uns noch kriegen werden. In dieser Nacht sind unsere Träume bereits vorbestimmt. Na, was wohl?